Islamwissenschaftlerin Elika Djalili: «Ich befürchte, dass viel härtere Massnahmen auf die Menschen im Iran zukommen»
Steht der Iran vor einem Wendepunkt? Kunst- und Islamwissenschaftlerin Elika Djalili erklärt, wie die Haare der Frauen dem Regime die Legitimation entziehen, weshalb nicht nur die Hijabs, sondern immer öfter auch die Turbane der Mullahs fallen – und was nach den Protesten kommen könnte.
Text: Helene Aecherli Bild: Alamy
annabelle: Elika Djalili, vor knapp acht Wochen wurde die 22-jährige Jina Mahsa Amini in Teheran von der Sittenpolizei festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht korrekt getragen haben soll. Kurz darauf starb sie mutmasslich an den Folgen der Polizeigewalt. Seither wird die Islamische Republik von Protesten erschüttert. Sie verfolgen die Ereignisse auf den sozialen Medien, sind mit Menschen vor Ort direkt in Kontakt. Was sehen Sie?
Elika Djalili: Frauen und Männer aus allen Schichten, Generationen und Ethnien, die auf die Strasse gehen, Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen und unverhüllt demonstrieren. Und nach wie vor Bilder von brutalster Gewalt, von Menschen, die von Sicherheitskräften verprügelt und verschleppt werden. Bis jetzt sollen in den grossen Städten des Landes insgesamt über 300 Protestierende umgekommen sein. Ich habe eine Liste der getöteten Jugendlichen gesehen, sie waren zwischen 14 und 19 Jahre alt. Zudem kursieren Namen von Demonstrierenden, die zum Tod verurteilt worden sind, darunter bekannte Künstler:innen. Das alles ist kaum zu ertragen.
Proteste gibt es auch in den kurdischen Gebieten Irans und in der Provinz Baluchistan. Was hören Sie aus diesen Regionen?
Von massiven Unruhen mit vielen Toten. Jina Mahsa Amini war Kurdin, davon zeugt ihr Name «Jina», ihr Tod hat die Situation in dieser Region stärker in den Fokus gerückt. Die Kurd:innen werden seit Jahren in der Islamischen Republik diskriminiert; ein Grund hierfür ist ihre Religionszugehörigkeit: Kurdinnen und Kurden sind Sunniten, keine Schiiten, sie weichen also von der Staatsreligion ab. Dasselbe gilt für Baluchistan: Auch die Bevölkerung dort ist sunnitisch. Innerhalb weniger Tage wurden aufgrund der Proteste mehr als 100 Menschen getötet. Die Sicherheitskräfte sind extrem brutal vorgegangen. Da Baluchistan jedoch eine marginalisierte Provinz ist, sickern nur sehr wenige Informationen und Videos durch. Deshalb kann das Regime vieles versteckt halten.
Viele Videos zeigen vermehrt auch Proteste und Sitzstreiks von Studierenden an Universitäten. Haben die Proteste damit eine neue Dimension erreicht?
Ja, diese Proteste sind neu. Interessant ist, dass Abgeordnete des staatlichen Verwaltungsapparats diese Universitäten aufsuchen, wohl mit der Absicht, die Proteste zu befrieden. Sie halten Reden in Hörsälen, fordern die Studierenden auf, ihre Proteste doch in ruhige, geordnete Bahnen zu lenken – was schon fast etwas Verzweifeltes hat. So ist auf den Videos zu sehen, dass die Studierenden sie nicht ausreden lassen. Ein Rektor wurde dabei gefilmt, wie er die Studierenden niederbrüllte und ihnen drohte, dass sie keinen Abschluss machen könnten, sollten sie nicht aufhören, zu protestieren. Aber die Studierenden lassen sich nicht davon beeindrucken, sondern machen weiter.
Aktuell kursiert auf den sozialen Medien #BeTheirVoice. An wen richtet sich dieser Aufruf genau?
Er richtet sich an die Zivilgesellschaften ausserhalb des Irans, vor allem aber an Iraner:innen in der Diaspora. Sie sind aufgerufen, jenen Menschen eine Stimme zu verleihen, die keine haben. Denn im Iran gibt es keine freie Meinungsäusserung. Sobald du die Stimme erhebst, wird man gewaltsam gegen dich vorgehen und dich verhaften. #BeTheirVoice soll denn vor allem auch die Stimmen jener Menschen hörbar machen, die aufgrund ihres Protests im Gefängnis sitzen. Von vielen Gefangenen weiss man nicht einmal, wo sie sich befinden. Es vergehen oft Tage, bis sie Kontakt mit ihren Familien aufnehmen dürfen.
«Alles, was die internationale Aufmerksamkeit auf die Proteste im Iran richtet, ist für die Menschen dort positiv»
Sie sind gebürtige Iranerin und leben seit bald 40 Jahren in der Schweiz. Was bedeutet dieser Aufruf für Sie persönlich? Können Sie diese Erwartungen erfüllen?
Ich versuche es, so gut ich kann. Wir, hier in Europa, müssen nicht um unser Leben fürchten, wenn wir auf die Strasse gehen, Kundgebungen machen oder Petitionen lancieren. Das sind Freiheiten, die die Menschen im Iran nicht haben. Alles, was die internationale Aufmerksamkeit auf die Proteste im Iran richtet, ist für die Menschen dort positiv. Ziel ist, dass diese Aufmerksamkeit nicht nachlässt.
Letzten Mittwoch verkündete der Bundesrat, dass er die EU-Sanktionen gegen das iranische Regime aufgrund seines brutalen Vorgehens gegen die Proteste nicht übernimmt, sich den EU-Sanktionen bezüglich der Drohnenlieferungen nach Russland aber anschliesst. Was ist Ihre Haltung dazu?
Ich frage mich, was sich die Schweiz von diesem Vorgehen erhofft. Das ist höchst undurchsichtig. Natürlich ist die Schweiz besorgt um ihren Status als Schutzmacht. Sie vertritt aufgrund ihrer Neutralität im Iran unter anderem die Interessen der USA. Ich nehme an, sie fürchtet, diesen Status zu gefährden, würde sie sich in die «inneren Angelegenheiten» des Irans «einmischen». Und das wird wohl höher gewichtet als Menschenrechte.
Aus Protest gegen den Tod von Jina Mahsa Amini schneiden sich Frauen im Iran und auch in der Schweiz die Haare. Auf einer Kundgebung in Bern am vergangenen Wochenende hat selbst SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen ein paar Haarsträhnen geopfert. Worin gründet dieses Ritual?
Es gibt Belege dafür, dass dieser Brauch aus vorislamischer Zeit stammt. Im grossen persischen Nationalepos Shahname, das von Königen aus jener Epoche erzählt, wird beschrieben, wie der junge, unschuldige iranische Prinz Siavosh getötet wird, worauf sich seine Frau als Zeichen der Trauer, aber auch ihrer Wut und ihres Protests ihre Haare abschneidet – so, wie es die Frauen heute tun. Dieses Ritual wird auch in der zeitgenössischen Literatur verwendet und oft an der Natur gespiegelt. So verliert etwa ein Baum, der denselben Namen trägt wie die Frau, die trauert, alle seine Blätter. Sich die Haare schneiden tun übrigens nur Frauen. Männer, das ist im Islam wie im Judentum Brauch, lassen sich während der Trauerzeit den Bart wachsen
Bemerkenswert ist, dass grundlegende feministische Forderungen Treiber der Proteste sind: Eine freie und gerechte Gesellschaft kann nur dann geschaffen werden, wenn die Frauen dieselben Grundrechte haben wie Männer. Geschieht im Iran gerade ein Paradigmenwechsel?
Nun, der Iran hat eine lange Geschichte von feministischen Bewegungen. Eine ihrer frühesten Vertreterinnen ist Tahereh, eine Dichterin, Theologin und Frauenrechtsaktivistin in der Dynastie der Kadscharen, die 1852 hingerichtet wurde. Tahereh hatte den Zorn des damaligen Schahs auf sich gezogen, weil sie zum Bahaitum konvertiert war, einer Religionsgemeinschaft, die in der muslimischen Welt noch immer unterdrückt wird, und: Weil sie in der Öffentlichkeit ihren Gesichtsschleier abgelegt hatte. Unter den Kadscharen hatten rigide Kleidervorschriften geherrscht. Frauen waren gezwungen, einen Tschador mit Gesichtsschleier zu tragen. Dagegen hatte sich Tahare gewehrt, zudem hatte sie sich öffentlich gegen die Polygamie ausgesprochen. Ihre letzten Worte vor ihrer Hinrichtung sollen gelautet haben: «Du kannst mich töten, sobald du willst, aber du wirst die Emanzipation der Frauen nicht aufhalten können.»
Und diese Worte wurden zum feministischen Programm.
Genau. Während der Revolution von 1979 demonstrierten säkulare Frauen Seite an Seite mit religiösen gegen das Regime des Schahs. Gemäss Berichten von Amnesty International waren damals Tausende von Schah-Gegner:innen verhaftet worden. Ausserdem war das vom Schah versprochene Frauenwahlrecht zur Farce verkommen, da es nur für Schah-treue Kandidatinnen galt. Als dann unter Revolutionsführer Ayatollah Chomeini die Hijab-Pflicht für Iranerinnen gesetzlich verankert wurde, gingen die Frauen erneut auf die Strasse, und zwar symbolträchtig am 8. März, dem Internationalen Frauentag. Die Frauen kamen zwar mit ihrem Anliegen nicht durch, haben aber mit jedem Protest mehr Mut bekommen. Und mit zunehmender Bildung, die für einen Grossteil der Bevölkerung möglich wurde, ein Verdienst, notabene, der Islamischen Republik, hat sich auch das feministische Bewusstsein immer mehr verstärkt.
«Was wir jetzt sehen, ist wie die Eruption eines Vulkans, der schon lange am Brodeln ist»
Im August 2020 wurde der Iran von einer eigenen MeToo-Bewegung erfasst: Eine Journalistin beschuldigte einen international bekannten Künstler der sexuellen Übergriffe. Im Interview mit annabelle sagten Sie damals: «Frauen haben es satt, zu schweigen». Inwiefern hat diese Debatte den Weg für die aktuellen Proteste geebnet?
Ich denke, die Tatsache, dass die MeToo-Bewegung aus den eigenen Reihen losgetreten und auch von Männern unterstützt wurde, hat das Selbstbewusstsein der Frauen gesteigert. Auch die aktuellen Proteste werden von Männern gestützt – selbst wenn immer wieder die Frage aufkommt, wie sehr sie ihre Rechte und Privilegien beschränken müssen, wenn Frauen mehr Rechte bekommen. Aber der Punkt ist: Sehr viele Familien der gebildeten, urbanen Mittelschicht – und dazu gehören 80 Prozent der Bevölkerung – akzeptieren die gesetzlich legitimierte Ungleichbehandlung von Frauen längst nicht mehr. Ein Beispiel: Gemäss des Familienrechts der Scharia, des islamischen Rechtssystems, ist eine Ehefrau gegenüber ihrem Mann bloss zu einem Achtel erbberechtigt; eine Tochter erbt im Vergleich zu einem Sohn die Hälfte. Dieses Gesetz wird in vielen Familien umgangen. Ausserdem halten immer mehr Frauen vor der Heirat in einem Ehevertrag fest, dass sie ohne die Bewilligung ihres Mannes aus dem Land reisen dürfen – etwas, das ihnen im Prinzip gesetzlich untersagt ist. Was wir jetzt sehen, ist also wie die Eruption eines Vulkans, der schon lange am Brodeln ist.
Wie stark steht die religiöse Bevölkerung hinter den Protesten?
Ich höre immer wieder von Frauen im Tschador, dass sie das Anliegen der Protestierenden teilen und auch an den Protesten teilnehmen. Sie stehen für die Freiheit der Frauen ein, die Kleidung selbst zu wählen, und fordern – wie die säkularen Frauen – grundsätzliche Rechte für Frauen innerhalb der Familie und Gesellschaft. Eine dieser protestierenden religiösen Frauen stammt aus Mashad, der religiösen Hochburg Irans. Selbst sie wurde verhaftet, weil sie sich kritisch über das Vorgehen der Regierung geäussert hatte.
Ein Kommentar in der deutschen Zeitung «TAZ» monierte, die Protestaktionen der Iranerinnen stünden für westliche Ideologien. Frauen im Iran müssten nicht vom Hijab befreit werden, um individuelle Freiheiten zu erlangen. Dieser Anspruch sei kolonialistisch. Was sagen Sie dazu?
Das ist ein Argument, das gerade von westlichen Feministinnen immer wieder angebracht wird. Warum sollte der Wunsch der Iranerinnen nach Selbstbestimmung und der freien Wahl ihrer Kleider kolonialistisch sein? Erstens war Iran nie eine Kolonie, zweitens ist dieser Wunsch nach Gleichberechtigung eine Konsequenz der höheren Bildung und intellektueller Reife. Vor der Revolution 1979 mussten die Frauen auch keinen Hijab tragen. Die Frauen im Iran haben bewiesen, dass sie der Hijab nie an der Partizipation an der Gesellschaft gehindert hat: Die Zahl der Universitätsabsolventinnen ist höher als jene der Männer, Frauen sind führend im privaten Sektor, und es gibt im Iran mehr Regisseurinnen als in Hollywood. Die Bewegung, die jetzt in Gang ist, ist spontan aus sich selbst gewachsen und ein Schrei nach individuellen Freiheiten und Menschenrechten – und das sind keine westlichen Konstrukte, sondern globale Grundbedürfnisse. Diese Selbstbestimmtheit gilt es anzuerkennen.
Doch ohne jeglichen Einfluss ist der Westen nicht.
Natürlich nicht. Dadurch, dass der Iran so lange vom Westen abgeschottet war und noch immer ist, erscheint vieles aus dem Westen attraktiv, sodass man sich am Westen orientiert. China, Russland und die östlichen Nachbarländer Afghanistan und Pakistan waren hingegen nie erstrebenswerte Modelle für die iranische Bevölkerung – obwohl die Islamische Republik mit diesen Ländern intensive Handelsbeziehungen hat.
«Eine Islamische Republik ohne verhüllte Frauen ist undenkbar»
Konkret: Wie ordnen Sie die Rolle des Westens in der iranischen Bevölkerung ein?
Derzeit geht es vor allem um das Atomabkommen mit dem Iran. Die Protestierenden wollen ein neues Abkommen verhindern. Denn sie wissen: Würden die Sanktionen aufgehoben und Milliarden von Dollars freigegeben werden, würde dies das Regime noch reicher und mächtiger machen. Das zeigten die Erfahrungen von 2015, als das Atomabkommen unterschrieben wurde und sich die ersten westlichen Unternehmen, etwa die Autofirmen Peugeot und Renault, um Niederlassungen im Iran bemühten. Damals herrschte im ganzen Land eine grosse Euphorie. Man hoffte, dass der Iran durch den Kontakt mit dem Westen aus der Abschottung kommen und vor allem, dass sich die wirtschaftliche Situation für die Bevölkerung verbessern würde. Aber die Menschen erhielten kaum etwas von dem freigewordenen Geld. Es wurde für die aussenpolitische Expansion des Irans in der Region eingesetzt, etwa in Syrien, im Irak, für die Huthis im Jemen oder die Hisbollah im Libanon. Allein die Al-Quds-Brigaden der iranischen Revolutionsgarden, die militärische Einheit des Regimes im Ausland, verschlingen Milliarden – während mittlerweile 75 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht sind.
In den vergangenen Monaten sollen die Kleidervorschriften noch rigoroser kontrolliert worden sein: Ich habe von Frauen gehört, denen man den Führerschein oder gar das Auto konfisziert hat, weil sie den Hijab nicht korrekt trugen. Man sagt, solche Manöver sollen von aussenpolitischen Aktionen des Regimes ablenken.
So ist es. Diese verschärften Massnahmen kommen oft schubweise. Damit hält das Regime die Menschen beschäftigt. So geschah es denn auch im Zug solcher Verschärfungen, dass Jina Mahsa Amini überhaupt erwischt worden ist.
Die Bekleidungsvorschriften für Frauen, also der Hijab, ist DAS Symbol des iranischen Gottesstaats, sozusagen die Visitenkarte gegen innen und aussen. Im Umkehrschluss heisst das: Fällt der Hijab, fällt das Regime. Es wird durch die offenen Haare der Frauen delegitimiert.
Richtig. Die Islamische Republik basiert auf mehreren Pfeilern und einer davon ist die Kopfbedeckung der Frauen. Eine Islamische Republik ohne verhüllte Frauen ist undenkbar. Interessant ist nun aber, dass ein Vertreter des Regimes am staatlichen Fernsehen gesagt haben soll, dass 70 Prozent der Frauen ihren Hijab ablegen würden, wenn sie die Wahlfreiheit hätten. Eine solche Aussage von regime-interner Seite zeigt, dass es dem Regime bewusst ist, dass dieser Pfeiler am Wanken ist.
Stellt sich nur die Frage, wie stark er wanken wird.
Sagen wir es so: Nur schon die Tatsache, dass die Proteste so lange andauern, durch alle Bevölkerungsschichten hindurchgehen und sogar von der iranischen Diaspora im Ausland unterstützt werden – sie gelten aus diesem Grund als dezentralisierte Bewegung – weist darauf hin, dass diese Bewegung einen anderen Charakter hat als alle anderen Bewegungen zuvor. Die Proteste gehen längst über Bekleidungsvorschriften für Frauen, ja sogar über Frauenrechte hinaus. Die Menschen wollen einfach die Islamische Republik nicht mehr. Sie wollen eine Regierungsform, die frei ist von Religion und Ideologie. Inzwischen haben sogar die Mullahs Angst davor, auf die Strasse zu gehen. Auf einem Video ist zu sehen, wie eine junge Frau einem Mullah den Turban vom Kopf schubst. Nun wird den Mullahs in Witzen nahegelegt, Turbane zu tragen, die sich wie ein Velohelm unter dem Kinn befestigen lassen.
Die Regierung hat also allen Grund dazu, nervös zu werden.
Ja, und das ist nur schon daran zu erkennen, wie das staatliche Fernsehen die Demonstrationen in Berlin kommentierte, an denen Ende Oktober über 80 000 Menschen zusammenkamen, um Solidarität mit der Protestbewegung im Iran zu bekunden. Der Sprecher erklärte, die Menschen in Deutschland seien aufgrund der erhöhten Energiepreise auf die Strasse gegangen. Das heisst, das Regime realisiert, dass die Proteste nicht bloss kleine Strohfeuer sind, sondern grössere Dimensionen haben. Indem das Regime die Ereignisse in Berlin zu vertuschen sucht, zeigt es, wie wichtig sie in Wahrheit sind.
«Eine neue Führung im Iran wird – wenn überhaupt – nur aus der iranischen Bevölkerung selbst kommen können»
Das iranische Parlament soll die Justiz aufgefordert haben, härter gegen die Demonstrierenden vorzugehen. Denn sie führten einen Krieg gegen Gott und darauf stehe die Todesstrafe. Wie ist das einzuordnen?
Insofern, als dass das Regime sein Macht- und Gewaltpotenzial noch lange nicht ausgeschöpft hat – und das macht mir Sorgen. Es könnte seine gesamten militärischen und paramilitärischen Einheiten mit voller Wucht zuschlagen lassen.
Mit paramilitärischen Einheiten meinen Sie die Sepah, die Revolutionsgarden, und die Basij, eine Milizeinheit, deren Vorgehen gegen Protestierende als besonders brutal gilt.
Genau. Beide Einheiten werden vom Regime finanziert. Die Mitglieder der Basij – zu denen auch Frauen gehören – stammen ausserdem oft aus ärmlichen Verhältnissen. Durch ihren Job bei der Einheit erhalten sie Anerkennung und ein Gehalt, das ihre Existenz sichert. Wohl auch deshalb sind sie ideologisch noch immer streng auf Linie mit der Islamischen Republik.
Gibt es überhaupt einen gangbaren Ausweg für das Regime?
Fest steht nur: Es gibt keinen Schritt zurück. Wir hatten Mohammed Chatami, später Hassan Rohani, beides Präsidenten, die reformwilliger waren als Ebrahim Raisi, der heutige Präsident. Doch sind die Restriktionen ständig verschärft worden – nicht umgekehrt. Ich befürchte, dass künftig noch sehr viel härtere Massnahmen auf die Menschen im Iran zukommen werden. Ähnlich wie nach der Grünen Revolution 2009, die sich ebenfalls gegen das System richtete, als viele Menschen ins Ausland fliehen mussten.
Welche Rolle spielt die Familie des Ex-Schahs?
Cyrus Reza Pahlavi, der älteste Sohn des letzten Schahs und einstige Kronprinz, lebt im US-Exil. Er hat nie beansprucht, König zu werden, doch immer wieder erklärt, dass er bereit wäre, eine symbolische Funktion einzunehmen, die Bevölkerung die Regierungsform jedoch selber wählen liesse. Gemäss der Slogans und Forderungen, die man von den Protestierenden in Iran mitbekommt, will niemand, dass Cyrus Reza Pahlavi zurückkehrt. Er ist seit 43 Jahren vom Iran weg und hat nicht die Krisen miterlebt, die die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten durchmachen musste. Eine neue Führung im Iran wird – wenn überhaupt – nur aus der iranischen Bevölkerung selbst kommen können.
Dr. Elika Djalili ist Kunst- und Islamwissenschaftlerin und Dozentin an der Universität Bern. Sie ist in Teheran geboren und aufgewachsen und lebt seit fast 40 Jahren in der Schweiz.
Dieses Interview erschien auf annabelle.ch