Brief an... Nasrin Sotoudeh
Liebe Nasrin Sotoudeh,
Sollten Sie diese Zeilen jemals lesen, werden Sie sich vielleicht darüber wundern, dass ich Ihnen hier ein Kompliment mache.
Denn «Kompliment» hört sich im ersten Moment so leichtfüssig an, so unbeschwert; man macht jemandem ein Kompliment für eine neue Frisur, eine überzeugende Rede oder für seinen ersten Bestseller-Roman. Aber kann man einer Frau wie Ihnen, einer der bekanntesten Menschenrechtsanwältinnen des Iran, die aufgrund ihrer Arbeit im Gefängnis sitzt, überhaupt ein Kompliment machen? Ein Kompliment für Ihren Mut und Ihren unbedingten Willen, für universelle Menschenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter einzustehen, obwohl Sie dadurch riskieren, jahrelang von Ihrem Mann und Ihren beiden Kindern getrennt zu sein und Sie die Haftstrafe das Leben kosten könnte? Passt dieses Wort? Ist es nicht zu banal?
Wie Sie sehen, tue ich mir gerade schwer damit, vielleicht verstricke ich mich aber auch nur deshalb in linguistische Finessen, weil ich Zeit gewinnen und meine Angst vor dem Schreiben überlisten will. Denn wir kennen uns nicht. Sind uns nie begegnet. Und werden es wahrscheinlich auch nie tun.
Ich weiss nicht, was wirklich in Ihnen vorgeht, kann Ihren Schmerz nicht mehr als erahnen. Ich kenne Ihre Geschichte nur aus Beiträgen in anderen Medien, aus Kampagnen von Menschenrechtsorganisationen, die Ihre Inhaftierung anprangern, und ja, ich begegnete Ihnen am Frauenstreiktag am 14. Juni, als gut eine halbe Million Schweizerinnen auf die Strasse gingen, um für eine gleichgestellte und weniger gewalttätige Gesellschaft zu demonstrieren. Ihr Gesicht blickte von einem Plakat herunter, das eine junge Frau über ihren Kopf hielt. «Free Nasrin Sotoudeh» stand darauf geschrieben. Ich freute mich sehr, Sie dort zu sehen. Denn das zeigte mir, dass Ihr Schicksal nicht bloss ein weit entferntes Abstraktum ist, sondern eine Realität, die uns auch hierzulande berührt – und dass die Werte, die Sie verteidigen, auch die unseren sind und für die wir nicht aufhören dürfen einzustehen. Aus diesem Grund wage ich es nun trotzdem, mein Kompliment an Sie.
Als Anwältin haben Sie Menschen vor Gericht verteidigt, die sonst keinen Rechtsbeistand gefunden hätten:
Angehörige der im Iran diskriminierten religiösen Minderheit der Bahai, Minderjährige in Todeszellen, Demonstranten der oppositionellen grünen Bewegung. Sie wussten immer, dass Ihre Tätigkeit riskant ist. Denn um Regimekritiker und die immer wieder aufflammenden Proteste gegen die Regierung unter Kontrolle zu bekommen, setzen Justiz und Staatssicherheit jene Rechtsanwältinnen und -anwälte unter Druck, die Menschen in ihrem Widerstand gegen den Gottesstaat juristisch zur Seite stehen.
2010 wurden Sie zum ersten Mal verhaftet, drei Jahre später freigelassen. Am 13. Juni 2018, fast haargenau ein Jahr vor unserem landesweiten Streik, wurden Sie erneut verhaftet und ohne Möglichkeit zur Verteidigung zunächst zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Vorwurf: staatsfeindliche Propaganda, Beleidigung der Islamischen Republik und Spionage. Seither sitzen Sie im berüchtigten Evin-Gefängnis in der Hauptstadt Teheran ein. Diesen Februar teilte man Ihnen mit, dass Ihr Strafmass erhöht worden sei: Um zusätzlich 33 Jahre Haft und 148 Peitschenhiebe. Zwar ist ein solches Urteil in Teheran weder offiziell bestätigt noch dementiert worden. Doch zeugt allein die Tatsache, dass dieses Strafmass kursiert, von der Nervosität des Regimes. Denn zu den neusten Anklagepunkten gegen Sie gehören «Anstiftung zu Korruption und Prostitution», «offenes sündhaftes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch» und «Störung der öffentlichen Ordnung». Ihr Vergehen: Sie hatten in den Monaten vor Ihrer Verhaftung die Verteidigung von zwei jungen Frauen übernommen, die öffentlich gegen das gesetzlich erzwungene Tragen des Kopftuchs protestiert hatten und daraufhin inhaftiert worden waren.
Lassen Sie es mich wiederholen: 33 Jahre Haft und 148 Peitschenhiebe dafür, dass Sie wagten, gegen ein «simples Stück Stoff» anzugehen. Dass Sie es wagten, junge Frauen zu unterstützen, die sich wünschen, sich so zu kleiden, wie sie es wollen. Dass sie es wagten, ein Recht auf Nichtverhüllung auszusprechen.
Und damit vertraten Sie nicht einmal das Anliegen einer Minderheit. Denn laut dem Nahost-Think-Tank Mena-Watch hat kürzlich eine Studie des iranischen Parlaments ergeben, dass bis zu 70 Prozent der Frauen eine Lockerung der Kopftuchpflicht befürworten, während nur ein Drittel der weiblichen Bevölkerung den Hijab als Teil der nationalen Identität akzeptiert. Doch zeigt das drakonische Strafmass gegen Sie, dass nur schon das Hinterfragen des Kopftuchgebots gesellschaftlicher Sprengstoff ist und das Textil per se weit davon entfernt, einfach ein simples Kleidungsstück zu sein, ein alleiniger Ausdruck von individueller Spiritualität oder modischem Flair, wie es hierzulande gar manche engagierte Feministinnen so gern sehen wollen. Vielmehr ist es allem voran ein Symbol und Marketingtool einer fundamentalistischen Ideologie, auf die sich ganze Staatsapparate stützen, und die eines kennzeichnen soll: die Ungleichstellung der Frau. Dass durch die Diskriminierung von Frauen, der Hälfte einer Bevölkerung, ganze Gesellschaften stagnieren, wissen wir längst.
Dagegen kämpfen Sie an. Und damit bringen Sie sich in Lebensgefahr. Sie tun es bewusst. Nicht, weil sie eine Revolution wollen, sondern weil sie an einen Wandel glauben.
An einen Wandel, der den Menschen in Ihrem Land das bringt, was wir in der Schweiz hochhalten und wofür wir vor zwei Wochen auf die Strasse gegangen sind: auf das Recht und die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wie wir leben wollen, und in dem, was wir tun, nicht aufgrund unseres Geschlechts benachteiligt zu werden.
Ich hoffe, dass Ihnen dieses Kompliment – sollten Sie diese Zeilen tatsächlich irgendwann mal lesen – den Rücken stärkt. Geben Sie nicht auf! Ihr Mut inspiriert. Und wer weiss, vielleicht treffen wir uns trotz allem eines Tages auf einen Tee?
Das wäre wunderbar.
Herzlich, Helene Aecherli
Dieser Text erschien am 28. Juni 2019 in der Rubrik "Kompliment" auf annabelle.ch