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«Wir werden es euch nicht erlauben, unsere Töchter zu vergewaltigen»

| Helene Aecherli | Blog
«Wir werden es euch nicht erlauben, unsere Töchter zu vergewaltigen»

FRAUENRECHTE IM IRAK

Die Irakerin Yanar Mohammed arbeitete in Toronto als Architektin. Dann kehrte sie nach Bagdad zurück, um Schutzräume für Frauen zu errichten. Denn nicht nur der IS, sondern auch die wieder erstarkten Stammesstrukturen im Land haben eine verheerende Auswirkung auf das Leben von Frauen. Ehrenmorde, Zwangsverheiratungen und Frauenhandel sind an der Tagesordnung. Doch der Widerstand gegen die Stammescodes wächst  - gerade auch unter Männern.

Yanar Mohammed bei ihrem Besuch in Genf. 
Foto: Mauve Serra

Yanar Mohammed, Sie bezeichnen sich als politische feministische Aktivistin - fast schon eine Kampfansage. Was bedeutet der Begriff Feminismus für Sie?

Yanar Mohammed: Feminismus bedeutet für mich, sich gegen den einen «bad guy» in den eigenen vier Wänden zu erheben, vor allem aber Widerstand zu leisten gegen ein ganzes System, das dich erniedrigt. Das dich mit Füssen tritt, dich als ein Wesen betrachtet, das es nicht verdient, das Beste aus seinem Leben herauszuholen.

Sie wirken zornig.
Das bin ich auch. Ich hatte in Bagdad zwar eine glückliche Kindheit, bin wohlbehütet in einer Familie aufgewachsen, die mich dazu ermutigte, zu studieren und Karriere als Architektin zu machen. Und dennoch: Ich habe schon als sehr junges Mädchen immer eine Wut in mir verspürt, eine Wut, die sich aufstaute, die ich jedoch lange nicht fassen konnte.

Was hat diese Wut ausgelöst?

Ich erinnere mich sehr gut daran. Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Wir sassen zuhause nach dem Abendessen beim Tee. Ich hörte, wie meine Onkel sich darüber unterhielten, dass meine Grossmutter mit 14 Jahren zur Heirat gezwungen und in ihrer Hochzeitsnacht vergewaltigt worden war. Dann lachten sie und machten Witze. Das Gespräch wühlte mich auf, ich spürte, dass hier gerade etwas sehr Ungutes ablief. Von diesem Moment an bin ich wohl instinktiv wachsam geworden gegenüber allem, was ich als Diskriminierung von Frauen empfand. Ich fing an, zu beobachten und mir von meinen gedanklichen Notizen eine Art Archiv in meinem Kopf anzulegen.

Ich hörte, wie meine Onkel sich darüber unterhielten, dass meine Grossmutter mit 14 Jahren zur Heirat gezwungen und in ihrer Hochzeitsnacht vergewaltigt worden war. Dann lachten sie und machten Witze

Welche Beobachtungen haben in diesem Archiv Eingang gefunden?

Ganz unterschiedliche: Meine Mutter beschäftigte zum Beispiel eine junge Frau, die unser Haus putzte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und sie und ihr Kind hatten keine Schuhe. Ich fragte mich: «Warum sind sie barfuss?» Oder als ich verheiratet war, realisierte ich überrascht, wie ich mich zur Bediensteten wandelte, während mein Mann zum Patriarchen wurde. Ich war fassungslos: Wir hatten aus Liebe geheiratet, beide an derselben Universität studiert, und trotzdem: Nur einen Monat nach unserer Hochzeit befahl mir mein Mann, ihm das Essen an den Tisch zu bringen, weil er in Ruhe Zeitung lesen wollte. Hatte ich mal die Zeitung in der Hand, lachte er mich aus und sagte: «Ach, du Ärmste. Du kannst ja nicht einmal alles verstehen, was in der Zeitung steht.» Da begann ich zu ahnen, dass die Erniedrigung von Frauen in unserer Gesellschaft System haben muss.

Wann haben Sie Ihre Wut benennen können?

Ich lernte in Toronto, wo ich als Architektin arbeitete, Vertreter einer kurdischen Menschenrechtsgruppe kennen, die im Nordirak ein Frauenhaus eröffneten. Sie zeigten mir Bilder einer jungen Frau, die sie gerettet hatten. Die junge Frauen hatte Schande über ihren Clan gebracht, weil sie vergewaltigt worden war. Ihre Familie wollte sie töten, um die Ehre des Clans wiederherzustellen. Als ich diese Bilder sah, fasste ich den Entschluss, mein Leben zu verändern. Kurz nach Ausbruch des zweiten Irakkriegs im Jahr 2003 rief mich eine Bekannte aus Bagdad an und erzählte mir, dass Frauen systematisch verschleppt und vergewaltigt werden. Da packte ich meine Koffer und kehrte in den Irak zurück.

Sie gründeten die «Organisation of Women‘s Freedom in Iraq», mit der Sie Schutzhäuser für gewaltbetroffene Frauen errichteten. Sie sagen, das war der Beginn eines neuen feministischen Widerstands. Was heisst das genau?

Sehen Sie, wenn Sie eine Frau sind und in einem Land leben, das Ziel ist von militärischen und ideologischen Angriffen, ist es, als würde Ihnen eine zusätzliche Schicht der Unterdrückung übergestülpt. Sie sind nicht mehr nur dem Ehemann oder der Familie unterworfen, sondern auch einer Militarisierung der Gesellschaft und - in unserem Fall - einer islamistischen Bewegung, der Islamische Staat, der wie aus dem Nichts kam, sowie islamistischen Strömungen in der Regierung. Diese versucht uns Frauen nun Regeln aufzuzwingen, gemäss derer wir akzeptieren sollen, schweigende Wesen zu sein, die sich glücklich schätzen dürfen, Zweit-, Dritt- oder Viertfrau eines Mannes zu werden und unsere Körper zu verhüllen. Das ist eine neue Erfahrung für uns. Vor dem jüngsten Krieg war kaum eine Irakerin verschleiert. Unser Widerstand richtet sich also gegen die tief verwurzelten patriarchal-feudalen Strukturen unserer Gesellschaft und gegen die undemokratischen Machenschaften der Islamisten.

Der Hijab ist für mich ein «Islamist error», eine islamistischer Irrtum

Warum haben es Regierungen, die neu an die Macht kommen, oft so eilig, die Rechte von Frauen zu beschneiden?

Ganz einfach: Es geht um divide et impera, teile und herrsche. Als erstes unterteilt man die Bevölkerung in Frauen und Männer. Dann erlaubt man den Männern, die Frauen zu unterwerfen - und unterwirft schlussendlich auch die Männer selbst. Ziel ist es, die ganze Bevölkerung zu kontrollieren.

Vor drei Jahren sorgte die irakische Regierung weltweit für Schlagzeilen: Der Ministerrat hatte einen Gesetzesentwurf verabschiedet, das Jaafari Personal Status Law, der unter anderem Männern eine starke Vormundschaft über ihre Ehefrauen gewähren und das Mindestheiratsalter für Mädchen auf neun Jahre festlegen wollte. Wie sind Sie dagegen vorgegangen?

Nicht nur ich - viele zivilgesellschaftliche Organisationen haben es bekämpft. Dieses Gesetz wurde vom Justizminister, notabene der Kopf der islamistischen al Fadila-Partei, hervorgebracht und zielte auf den schiitische Teil der irakischen Bevölkerung ab - auf Zehntausende von gebildeten Frauen und deren Töchter. Wir haben jeden Freitag auf dem Tahrir-Platz in Bagdad demonstriert und den Slogan «Wir werden es euch nicht erlauben, unsere Töchter zu vergewaltigen» hochgehalten. Der Ministerrat hat daraufhin den Gesetzesentwurf zurückgezogen - zur Überarbeitung, wie es offiziell heisst.

Bezeichnet sich als politische feministische Aktivistin: die Irakerin Yanar Mohammed. Foto: Mauve Serra

Stichwort Schleier: Die Diskussion um den Hijab wird auch hierzulande intensiv und höchst kontrovers geführt. Wie stehen Sie dazu?
Der Hijab ist für mich ein «Islamist error», eine islamistischer Irrtum, der sich im Irak wie im ganzen  Nahen Osten breitmacht. Aber die jungen Frauen hinterfragen den Schleier kaum mehr, legen ihn einfach um, glauben, sie wären damit geboren worden.

Sprechen Sie mit den Frauen darüber?

Am Anfang meiner Arbeit hier habe ich sehr viel über den Hijab gesprochen und über die Ideologie, die dahintersteckt. Aber das kam nicht gut an. Die Frauen fühlten sich von mir eingeschüchtert und fragten: «Warum reden wir über Religion?» Eine Verbindung zu machen zwischen Religion und der Einschränkung von Frauenrechten ist für viele undenkbar. Also rede ich heute weniger über Religion, als generell über die systematische gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen und warte darauf, bis sie von selber darauf kommen, wie sich Religion auf Frauen auswirken kann.

Um die Folgen der UNO-Sanktionen abzuschwächen und die eigene Position zu stärken, verbündete sich Saddam Hussein mit den Stämmen

Sie weisen auch immer wieder darauf hin, wie verheerend Stammesstrukturen für Frauen sein können. Stammescodes waren unter Diktator Saddam Hussein fast verschwunden, seit einiger Zeit haben sie aber wieder Aufwind. Warum?

Saddam Hussein war 35 Jahre lang an der Macht. Zu Beginn seiner Diktatur hatten die Sozialisten den irakischen Stämmen enge Grenzen gesetzt, der Staat war sekulär, zudem erlebte der Irak einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es gab genug Arbeit, Frauen hatten die Möglichkeit, finanziell unabhängig zu sein, Eigentum zu besitzen und ein selbstständiges Leben zu führen. Aber als Saddam Hussein in den 90er Jahren Kuwait besetzte, und die UNO als Folge davon wirtschaftliche Sanktionen gegen den Irak verhängte, verfiel das Land in Armut. Um die Folgen der Sanktionen abzuschwächen und die eigene Position zu stärken, verbündete sich Saddam Hussein mit den Stämmen und erlaubte ihnen, ihre Stammescodes wieder aufleben zu lassen. Das führte aber auch zur Rückkehr von Ehrenmorden, Zwangsverheiratungen und vom Handel mit Frauen, als wären sie nichts mehr als eine Währung. Das setzt sich bis heute fort.

Dass der IS Frauen entführt und als Sexsklavinnen hält, ist hinlänglich bekannt. Dass Frauen schon vor dem Aufkommen der Terrormiliz in grosser Zahl verschleppt und an Bordelle verkauft wurden, verblasst hingegen.
Das stimmt. Während des Irakkriegs wurden junge Frauen entführt, vergewaltigt und in die Bordelle der grossen Städte verkauft. Die Frauen lebten in ständiger Angst davor, auf die Strasse zu gehen. Oft wurden Mädchen auch von ihren Familien verkauft. Dies geschah aber weniger aus bösem Willen, als aus schierer Not: In den ländlichen Teilen des Landes oder in den Vorstädten konnten rund vierzig Prozent der Familien ihre Kinder nicht mehr ernähren. Sie verheirateten eine Tochter, um mit dem Geld, das der Bräutigam für das Mädchen bezahlte, die anderen Kinder durchzubringen. Doch viele Männer, die sich eine junge Ehefrau kauften, wollten das Mädchen häufig schon nach einem Jahr wieder loswerden. Die meisten dieser Mädchen konnten nicht nach Hause zurück, gerieten in die Fänge von Zuhältern und landeten in Bordellen.

Sie sagten, die Stammesmentalität fördere auch Ehrenmorde. Wie hoch ist die Zahl solcher Verbrechen?

Das kann ich nicht genau sagen, wir arbeiten zurzeit nur mit informellen Statistiken. In Bagdad allein werden jährlich 250 nicht identifizierte Frauenleichen ins forensische Institut geliefert. Die eigentliche Opferzahl wird aber doppelt so hoch sein, da die Mörder die Leichen meist irgendwo verschwinden lassen. Hochgerechnet auf das ganze Land sind es schätzungsweise 3000 Frauen, die pro Jahr im Namen der Ehre umgebracht werden - meist sind es Frauen unter zwanzig, junge Frauen, die sich verliebt oder sich heimlich mit einem Mann getroffen haben und deshalb von ihren Vätern, Brüdern oder Onkeln umgebracht wurden.

Hochgerechnet auf das ganze Land werden im Irak schätzungsweise 3000 Frauen pro Jahr im Namen der Ehre umgebracht

Gibt es da gar keinen Widerstand von seiten der Familienmitglieder?

Doch, natürlich. Nehmen wir die Stadt Nasiriyah im Süden des Landes, wo im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die meisten Ehrenmorde geschehen. Dort gibt es sehr viele Familie, die gegenüber ihren Töchter sehr tolerant sind. Die sind aber trotz allem noch in der Minderheit und werden oft von Mitgliedern ihrer erweiterten Familie unter Druck gesetzt. Folglich kommt es vor, dass Brüder gezwungen werden, ihrer Schwester etwas anzutun.

Aber irgendwann müssten sich doch auch Männer gegen diese grausame Praxis zur Wehr setzen.
Das tun sie auch. Wir haben immer mehr Männer, die unsere Arbeit unterstützen. Als ich zum Beispiel in Al Nasiriyah an einer Konferenz über Ehrenmorde sprach, meldete sich der Chef der lokalen Handelskammer, der im Publikum sass. Er sagte, er komme von einer Familie, die das Privatleben ihrer Töchter liebe und respektiere, und strebe danach, dass diese Haltung in der ganzen Stadt Schule machen würde. Er spendete Geld für ein lokales Frauenhaus. Und wir haben Unterstützer, die sogar männliche Familienmitglieder rekrutieren, um unsere Frauenhäuser in Mossul zu beschützen. Das ist eine sehr positive Entwicklung.

Und wie geht es Ihnen persönlich heute? Haben Sie sich mit Ihrer Wut versöhnt?

Ja. Ich habe meine Berufung gefunden und habe das Gefühl, etwas Sinnvolles in meinem Leben zu tun. Wir haben bis jetzt zehn Schutzräume im ganzen Land errichtet und knapp 600 Frauen retten können. Unser nächste Ziel ist es, die irakische Regierung dazu zu bringen, Frauenhäuser, die von NGOs geführt werden, als legal zu erklären. Denn noch verstossen wir mit dem, was wir tun, gegen das Gesetz.

Yanar Mohammed und annabelle-Redaktorin Helene Aecherli nach ihrem Gespräch in einem Café in Bern.
Foto: Terre des Femmes Schweiz

Yanar Mohammed (57) verliess 1993 mit ihrer Familie den Irak und erhielt politisches Asyl in Kanada, wo sie als Architektin arbeitete. Von ihrem Ehemann liess sie sich scheiden. Nach Saddam Husseins Sturz kehrte sie in den Irak zurück und gründete die Organization of Women’s Freedom in Iraq (OWFI). Im Rahmen ihrer Arbeit eröffnete Mohammed Frauenzentren im ganzen Land. Die Häuser stehen auch Frauen aus religiösen und sexuellen Minderheiten offen, ebenso Frauen, die vor Menschenhandel oder Zwangsprostitution fliehen. Neben der Bewirtschaftung dieser Zentren bietet OWFI Beratungen, psychosoziale Unterstützung und Bildung in Menschenrechten und Arbeitskompetenzen an.

Yanar Mohammed wurde 2007 mit dem Eleanor Roosevelt Global Women’s Rights Award ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den norwegischen Rafto-Preis für Arbeit im Bereich der Menschenrechte.

Das Interview mit Yanar Mohammed fand in Bern im Rahmen eines Anlasses der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes Schweiz statt. Dieses Interview erschien in gekürzter Form auf annabelle.ch