Brief an... Rana Ahmad
Liebe Rana Ahmad,
als wir vor kurzem miteinander telefonierten, Sie in Köln, ich auf der Redaktion in Zürich, sagten Sie etwas, das mich zutiefst bewegte und das ich wohl nie aufhören werde zu zitieren.
Sie sagten: «Wissen Sie, ich habe immer davon geträumt, meine Wohnungstür aufzumachen und rauszugehen – einfach so – ohne erst jemanden um Erlaubnis zu bitten, ohne mich verhüllen zu müssen, ohne männlichen Begleiter und ohne jede Sekunde einen Fehltritt zu befürchten. Heute lebe ich meinen Traum. Jedesmal, wenn ich durch meine Wohnungstür ins Freie trete und den Wind in meinen Haaren spüre, durchströmt mich eine unbändige Euphorie. Schlendre ich allein durch die Strassen, lächle ich übermütig. Sitze ich mit Freunden in einem Café, kann ich mein Glück kaum fassen. In mir ist ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit.»
Wir haben telefoniert, weil Sie ein Buch geschrieben haben darüber, wie es ist, sich die persönliche Freiheit und grundlegende Menschenrechte mit aller Radikalität zu erkämpfen, bereit, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen und Heimat und Familie für immer zu verlassen. «Frauen dürfen hier nicht träumen», heisst es. Sie erzählen darin, wie Sie in einer streng religiösen Familie aufwuchsen, über Ihren Alltag als junge Frau in Saudi-Arabien, über Ihre Ehe, die in Scheidung endete, über Ihre Fassungslosigkeit, als Sie von Ihren Onkeln missbraucht wurden, über Ihre steigenden Zweifel an Gott, wie Ihr Bruder Sie fast zu Tode prügelte, als er dies bemerkte, und über Ihre Abkehr vom Islam – in fundamental islamischen Ländern eine Todsünde – die Sie vor gut zwei Jahren zur Flucht nach Deutschland bewog.
Zugegeben, erst habe ich mich geziert, das Buch zu lesen. Denn gerade solche Erzählungen, die mit solch kitschigen Titeln versehen den Buchmarkt fluten, gehören für mich auf den Stapel der rosaroten Betroffenheitspornografie (bitte verzeihen Sie mir diesen Ausdruck, aber ich finde ihn so wahnsinnig zutreffend) – und um den mache ich jeweils einen grossen Bogen. Denn meistens ist ihr Ton und Stil so plump, dass der Stoff – und sei er im Prinzip noch so gut – höchstens auf die Peinlichkeitdrüsen drückt.
Doch Ihre Art zu erzählen, Ihre Liebe zu Details, Ihre Schnörkellosigkeit haben mich fasziniert.
Besonders berührend fand ich etwa die Stelle, wo Sie beschreiben, wie sehr es Ihnen als kleinem Mädchen Spass machte, in den Ferien bei Ihren Grosseltern in Syrien Velo zu fahren.
Mit welch keckem Übermut Sie zum Bäcker radelten, um für Ihre Grossmutter Brot zu kaufen, wie Sie stolz immer grössere Runden drehten. Und wie fassungslos Sie waren, als Ihr Grossvater Ihnen eines Tages das Velo wegnahm und es Ihrem älteren Bruder schenkte. Sie seien nun ein grosses Mädchen, und grosse Mädchen dürften nicht mehr Velo fahren, sagte er Ihnen. Am Tag darauf lag ein schwarzes Tuch auf dem Küchentisch. Ihre Mutter erklärte Ihnen, dass Sie auf dem Weg seien, eine Frau zu werden, dass Sie von nun an ein Kopftuch tragen müssten. Und mehr noch: Sie würden zuhause in Riad nicht mehr ohne Ihren Vater vor die Tür dürfen. «Meine Mutter zeigt mir, wie man das Tuch umlegt», erinnern Sie sich in Ihrem Buch. «Ich mache es ihr nach, nach zwei Versuchen klappt es schon ganz gut. Als ich in den Spiegel blicke, erschrecke ich.» Damals waren Sie zehn Jahre alt.
Heute sind Sie 33, leben nach Ihrer verzweifelten Flucht über die Türkei und nach Monaten in einem Flüchtlingszentrum in Köln. Sie sprechen schon ein bisschen Deutsch, haben eine eigene Wohnung, sind bekennende Atheistin, schminken sich stark und tragen Ihre langen pechschwarzen Haare offen. Wie so viele Frauen, die sich einst verhüllen mussten, tendieren Sie dazu, fast ein bisschen zu überborden. Doch Ihre hart erkämpfte Sichtbarkeit ist es wert, farbenprächtig zelebriert zu werden. Gerade auch deshalb, weil sie ist nicht nur Ausdruck Ihrer neuen individuellen Freiheit ist, sondern auch ein politisches Statement.
So setzen Sie sich dezidiert und in aller Öffentlichkeit für ein Burkaverbot ein, auch wenn Sie damit nicht nur den Groll religiöser Fundamentalisten riskieren, sondern auch den Missmut mancher westlicher Feministinnen, die das Recht der Frau auf jegliche Form der Verhüllung verteidigen, ja, in ihr sogar einen Akt der Selbstbestimmung sehen.
«Mir ist bewusst, dass Frauen in Europa tragen dürfen, was sie wollen», erklären Sie. «Und das ist unverhandelbar. Trotzdem verstehe ich nicht, wie gerade Feministinnen etwas unterstützen können, das für so viele Frauen so schmerzlich ist. Burka wie Niqab sind keine Symbole der Freiheit, sondern Ausdruck des fundamentalistischen Islam. Weltweit setzen Frauen ihr Leben aufs Spiel, wenn sie sich dafür entscheiden, ihre Verhüllung abzulegen. Mit welcher Logik lässt sich dann ebendiese Verhüllung verteidigen?»
Genauso nachdrücklich unterstreichen Sie die Forderung nach einem europaweiten Kopftuchverbot an Schulen. Es tue Ihnen weh, sechsjährige Mädchen im Hijab zu sehen. Noch mehr aber verstöre Sie das Umfeld, das sich nicht für diese Mädchen einsetzt, sondern den Kinderhijab als etwas Normales erachtet. «Ich hatte als kleines Mädchen so sehr gehofft, dass jemand kommt und mich von meinem Kopftuch befreit», sagen Sie. «Aber es kam niemand.» Einem Kind das Kopftuch aufzuzwingen, so Ihr Fazit, sei, als würde man es von innen schlagen.
Kritiker könnten Ihnen vorwerfen, dass Sie auf Ihre Weise radikal sind. Dass Sie Rechtspopulisten jene Steilpässse liefern, die ihren Populismus nähren.
Das sind die üblichen Reflexe. Denen werden Sie entgegenhalten müssen. Frauen, die ihre Stimme erheben, bläst oft ein eisiger Wind ins Gesicht. Frauen, die traditionelle Gesellschaftsstrukturen herausfordern, zu Freiheitskämpferinnen in eigener Sache werden und dadurch die Opfermentalität durchbrechen, wehen gar ganze Stürme entgegen. Aber das ist gut so. Denn nichts ist schlimmer als Flauten. In der Kraft des Sturms liegt Veränderung. Und Inspiration für andere. Dass dies nicht bloss poetisches Wunschdenken ist, zeigt die Tatsache, dass Sie immer wieder von jungen Frauen kontaktiert werden, die sich von Ihnen ermutigt sehen, ihr Leben aller Widerstände zum Trotz zu verändern. Vielleicht, das ist Ihre Vision, wird dies irgendwann auch dazu beitragen, die Rechte von Frauen in Ihrem Heimatland zu stärken.
An den Wänden Ihrer Wohnung hängen Bilder von Marie Curie, Albert Einstein und Isaac Newton, erzählen Sie. Ihr Ziel ist es, Physik zu studieren, Nuklearphysikerin oder Quantenmechanikerin zu werden, denn Physik sei für Sie die Sprache des Universums. Versteht man sie, versteht man, wie alles funktioniert – auch die Menschen auf Erden. Als ich Ihnen gestehe, dass ich Physik nie begriffen habe und vor Zahlen panische Angst habe, lachen Sie herzlich. Sie hoffen, diesen Frühling am Cern in Genf ein Praktikum machen zu können. Ich hoffe, Sie dann auf einen Kaffee zu treffen.
Herzlich,
Helene Aecherli
Dieser Text erschien am 19. Januar 2018 in der Rubrik "Kompliment" auf annabelle.ch